Ich* habe meine Depression als eine geschichtslose Zeit erlebt. Nichts passte mehr zusammen, nichts ergab ausreichend Sinn. An etlichen Tagen lag ich auf meinem Wohnzimmer-Sofa, starrte an die Decke und konnte nicht fassen, dass das ein Leben sein sollte. Ich lag da, und mir war vollkommen klar, dass dieser Tag nicht zu schaffen war. Ich wünschte mir nichts, als dass der Tag schnell vorbei sein würde. Und am Ende dieser unerträglichen Tage warteten schlaflose Nächte. – Während andere zur Arbeit fuhren, wurde ich von einer Freundin in die Psychiatrie gebracht. Wie ein Mantra sagten wir immer wieder, dass es das Beste für alle sei. Fahren, schweigen, sagen, dass das wirklich das Beste für alle sei, und wieder von vorn.
Als ich mit dem Arzt redete fühlte ich mich wie bei einem Bewerbungsgespräch. Plötzlich hatte ich Angst, dass ich meinen Job als Kranker nicht gut genug machen würde. Ich hatte Angst Fehler zu machen. Oder nicht genug Fehler. Bin ich überhaupt krank genug? Oder bin ich nicht ein alberner Kranken-Darsteller, ein Schwächling, der sich nicht zusammenreißen kann? – „Zäsur-Wunsch“, sagte der Arzt und das Wort klang wie ein Einstellungsgrund. Nach einer Viertelstunde ging er. Beim letzten Mal hatte diese Erstuntersuchung eine halbe Stunde gedauert. Ich fragte mich, was ich falsch gemacht hatte. Zäsur-Wunsch.
Man könnte sagen, ich bin ein Depressiver in einer luxuriösen Position: Ich habe einen Job, ein Zuhause, einen Freundeskreis. Ich habe eine Familie, die mich auch dann noch liebt, wenn ich es gerade selbst nicht kann. Man könnte sagen: Ich habe überhaupt keinen Grund, depressiv zu sein. – In der Klinik traf ich Menschen mit wirklich schlimmen Problemen. Manche waren durch ihre Erkrankung arbeitslos geworden, verarmt und an den Rand der Gesellschaft gedriftet. Manche waren körperlich schwer erkrankt, hatten finanzielle Probleme oder waren in höllischen Beziehungen mit Partnern und Partnerinnen oder ihren Eltern verheddert. Viele waren allein. Weil sie seit Jahren von der Welt zurückgezogen lebten. Oder weil sie schlicht nie jemanden hatten.
Mittlerweile ist es fünf Jahre her, dass die Depressionen mein Leben, wie ich es kannte, gesprengt haben. – Es begann mit einer Flasche Wein, die ich in schnellen Zügen austrank, dem Gefühl, dass ich nicht mehr kann, und einem Zusammenbruch mit Heul-Krämpfen und Stürmen von Selbst-Verachtung. – Es wurde immer schlimmer. Ich wurde immer müder, ich stumpfte immer mehr ab. Mein kleiner Sohn, meine Frau, meine Freunde, Dinge, die mir mal wichtig waren, die Welt um mich herum berührte mich immer weniger. – Irgendwann dachte ich, dass ich mich meiner Familie nicht mehr antun konnte, und ging ins Krankenhaus.
Seitdem war ich dreimal in der Klinik, insgesamt etwas mehr als drei Monate. Ich war einige Wochen in einer Tagesklinik, habe mehr als 100 Stunden Psychotherapie hinter mir und unzählige Pillen genommen, um mein Gemüt zu stabilisieren. Ich nehme sie immer noch, zwei morgens, zwei abends. Alle ein bis zwei Wochen sehe ich meinen Therapeuten. – Ich bin immer noch krank. Oder besser: Mir fällt manches schwerer als anderen. Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht zu viel in meinem Kopf aufhalte, weil meine Gedanken dann manchmal destruktiv und selbstverletzend werden. Ich muss mein Denken im Blick behalten und die okayen (richtigen) Gedanken von denen unterscheiden, die nicht hilfreich sind. Ich finde es nicht mehr so schlimm, mit der Gefahr zu leben in eine neue Depression zu fallen. Denn ich weiß, wenn ich es selbst nicht hinkriege, kann ich mir Hilfe holen, vielleicht noch ein viertes Mal ins Krankenhaus gehen. – Weil die Psychiatrie manchmal der beste Ort für mich ist.
*Benjamin Maack: „Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein“. Suhrkamp; 332 Seiten, 18 Euro. Erscheint am 9. März.
Immer noch krank, Psychologie, Wie ich versuche, mit meiner Depression zu leben, Von Benjamin Maack, #DERSPIEGEL, Kultur, Nr. 11/7.3.2020
2 Antworten zu Nach #Krankenhaus und #Therapie geht’s wieder, so war’s das Beste! – #Rezension