Die Berliner Schriftstellerin Stefanie de Velasco erzählt die Geschichte von Esther und Sulamith. Sie ist nicht nur Esthers beste Freundin und eine der wenigen Menschen mit denen Esther überhaupt befreundet sein darf. Denn Esther und Sulamith haben kaum Kontakt zu Menschen „aus der Welt“, wie sie es nennen, sie leben „in der Wahrheit“. Sie nehmen nicht an Klassenfahrten teil, nicht an Karnevalspartys, nicht an Krippenspielen, sie feiern ihren Geburtstag nicht, und wenn der Geburtstag eines anderen Kindes gefeiert wird, schicken ihre Lehrer sie so lange vor die Tür. Esther und Sulamith sind Zeugen Jehovas.
Die Zeugen Jehovas sind sehr sichtbar, aber nicht greifbar. Sie leben wie hinter einer Glasscheibe. Sie sind mittendrin, aber nicht dabei, „kein Teil der Welt“. Und hinter der Glasscheibe ist das Leben streng reglementiert. Esther und Sulamith dürfen fast nichts im Fernsehen anschauen. Nicht „Pumuckl“, nicht „Alf“, nicht den „Räuber Hotzenplotz“, weil er nun mal ein Räuber ist. Esther und Sulamith hören jeden Abend eine Gutenachtgeschichte, aber es sind andere Gutenachtgeschichten, als sie die sogenannten Weltkinder hören, es sind Geschichten vom Satan. Christus hat Satan auf die Erde verbannt. Hier sind die letzten Tage angebrochen. Ein Endzeitgericht steht kurz bevor, ein göttliches Großreinemachen. Harmagedon nennen sie das.
Harmagedon beherrscht das Leben Esthers und Sulamiths. Alles, was sie taten, alles, was sie dachten, floss wie in der Schule in einer Art Endnote in die Bewertung ihres Lebens ein und entschied darüber, ob sie wert waren, im Paradies zu leben oder nicht. – Und so stehen Esther und Sulamith jahrelang jeden Samstag gemeinsam vor dem Kaufhof einer Kleinstadt bei Bonn und missionieren. – Eines Tages jedoch verliebt sich Sulamith in einen Jungen „aus der Welt“, einen „Tierrechtsaktivisten“ – Bald darauf ist sie tot.
Stefanie de Velasco ist im selben Universum groß geworden wie die beiden. Und sie ist genau im selben Alter wie diese in eine Glaubenskrise geraten. Velasco hatte einfach keinen Bock mehr, diese Scheißklamotten zu tragen. Sie hatte keinen Bock mehr, von Tür zu Tür zu gehen und zu missionieren. Und vor allem wollte sie nicht mehr auf dieses Harmagedon warten. Den Roman* zu schreiben hat sich für sie angefühlt, als stünde sie vor Gericht. Sie war Zeugin der Zeugen Jehovas. Vor allem aber ist es ihr darum gegangen, selbst zu verstehen, worin die Anziehungskraft der Gemeinschaft besteht.
Die Zeugen Jehovas wurden in beiden deutschen Diktaturen verfolgt: In der Nazizeit landeten 2.000 Mitglieder in Konzentrationslagern, 1.500 wurden ermordet. Aber auch in der ehemaligen DDR waren die Zeugen Jehovas seit 1950 verboten. Viele saßen im Gefängnis, die verbliebenen Mitglieder draußen mussten sich heimlich treffen.
Es ist nicht leicht, für ehemalige Zeugen Jehovas, ihr Glaubenssystem zu verlassen und in der Welt anzudocken. Stefanie de Velasco hat sich als Teenager an Punkrock und Tierschutz geklammert, an andere Glaubenssyteme gewissermaßen. Als sie ein paar Jahre älter war an die Performances der Theatergruppe Signa. Die Performer von Signa sind legendäre Weltenbauer, ihre Performances begehbare Filme. Das Ziel: die totale Illusion.
Die Signa-Macher sind bekannt dafür, ihre Arbeiten akribisch vorzubereiten. Jeder Performer lebt am Ende des Probenprozesses seine Rolle. Jeder weiß genau, was er zu sagen hat, wie er am besten auf aufmüpfige Besucher der Show reagiert. Und mit welcher Antwort er welche Frage parieren kann. Besucher geraten in ein fiktives System, in dem alles unter Kontrolle ist, alles geskriptet. Ein geschlossenes System. – Es ist wie bei den Zeugen Jehovas.
…Gleiches mit Gleichem bekämpfen – das ist das Prinzip der Homöopathie…
Tobias Becker, Leben im Weltuntergang (gekürzt), Sekten, Die Schriftstellerin Stefanie de Velasco erzählt von der Parallelgesellschaft der Zeugen Jehovas – in der sie selbst ihre Kindheit und Jugend verbracht hat, #DERSPIEGEL, Nr. 41 / 5. 10. 2019
*Stefanie de Velasco: „Kein Teil der Welt“ Kiepenheuer & Witsch, 368 Seiten, 22 Euro, erscheint am 10. Oktober
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