Als Feldherr war König Asarhaddon gefürchtet, der große Assyrerkönig schien allerdings ziemlich wehleidig gewesen zu sein. – An der Freien Universität Berlin wird an einem wissenschaftlichen Großprojekt gearbeitet, das die Heilkunde im antiken Orient beleuchten soll. Hier werden dazu mehr als tausend in Ton geritzte Keilschriften ausgewertet. Lange Listen von Heilkräutern und Rezepten zählen ebenso dazu wie Beschwörungsformeln gegen Schlangenbisse, epileptische Anfälle, Abszesse oder Ohrvereiterung. Welche Art von Medizin betrieben diese Hofärzte? Bisher hatte die Heilkunst der Babylonier unter Altertumskundlern einen schlechten Ruf. Der Lehrmeinung zufolge stand bei ihnen alles im Bann der Götter, ihre Sprüche und Rituale wurden als bloßer Hokuspokus abgetan. Vernunft und wissenschaftliches Denken gelten gemeinhin erst als eine Errungenschaft der Griechen. Die Götter haben in den Vorstellungen der Babylonier eine beherrschende Rolle gespielt. Doch dies hinderte sie nicht daran, systematisch zu denken.
Ihre bedeutendsten Entdeckungen danken die Berliner Forscher einem Katalog therapeutisch-medizinischer Werke aus der Stadt Assur. Sie rekonstruierten ihn aus Fragmenten einer Tontafel in der babylonischen Sammlung der Universität Yale: „Wenn ein Mann von einem Löwen angefallen wird…“, „wenn er von einem Dolch verwundet wird…“, „wenn er von einem Streitwagen fällt…“ – alle Widrigkeiten, die das Leben im alten Babylon mit sich bringen konnte, sind hier aufgelistet. Systematisch von Kopf bis Fuß werden mögliche Therapien abgehandelt. Psychische Leiden, Hautkrankheiten und Gynäkologie sind gesondert aufgeführt. Unklar allerdings ist, wie erfolgreich die Ärzte Babylons mit all ihrem Wissen heilen konnten. Zumindest einige ihrer Maßnahmen muten durchaus rational an. Dass fiebrige Erkrankungen die Gefahr von Ansteckung bergen, scheint ihnen zum Beispiel klar gewesen zu sein. So gab ein Arzt „strikte Anweisung“, dass niemand von der Tasse einer erkrankten Patientin trinken dürfe. „Niemand darf sitzen, wo sie gesessen hat, und niemand liegen, wo sie gelegen hat“.
Überirdische Mächte und rational begründete Pharmazie standen in der Welt der Babylonier offenbar nicht im Widerspruch zueinander. Einträchtig arbeiteten Exorzisten und Ärzte miteinander, beide fühlten sich dem Wohl der Kranken verpflichtet. Die Exorzisten hatten den Status von Priestern. In Kostüme gewandet, entfalteten sie im Rauch und mit Trommeln Heilzauber am Krankenbett. Vor allem aber beschworen sie mit wortgewaltigen Formeln den Beistand der Götter. Freizügig vermischten sie dabei Alltags-Akkadisch mit unverständlichem Abrakadabra. Zwar rührten diese Heiler neben all dem magischen Zinnober auch pharmazeutische Tinkturen und Heiltränke zusammen. Überwiegend jedoch war die Pharmaproduktion das Terrain der Ärzte. Diese gingen unabhängig vom Tempel, einem weltlichen Beruf nach. Oft ließen sie sich fürstlich für ihre Therapien bezahlen und waren hoch geachtete Bürger.
Was bei alledem fehlt, sind die Patienten. Sie kommen in den Abertausenden Tontafeldokumenten nur selten zu Wort. Doch immerhin: Eine vor dem Bürgerkrieg in Syrien entdeckte Stelle füllt diese Lücke. Auf ihr klagt Adad-bel-ardi, ein örtlicher Fürst, sein Leid: Schon als Kind sei sein Körper mit wunden Stellen übersät gewesen. Er sah nur verschwommen, seine Hände schmerzten. „Selbst der Schlaf gewährte meinen Füßen keine Ruhe“, jammerte er weiter. „Ich hörte auf zu essen, ich glich einem Toten“. Der „stechende Schmerz“ und die „Attacken der Schläfen“, die ihn plagten, könnten als Migräneanfälle gedeutet werden. Kurzum: Adad-bel-ardi war ein schwerer Fall. Heiler und Ärzte waren gleichermaßen überfordert. Der leidende Fürst wies ihre Dienste zurück und wandte sich flehend direkt an die Götter.
Johann Grolle, Voodoo am Krankenbett(Auszug), Archäologie, Wie fortschrittlich war die Heilkunst der Babylonier? Berliner Forscher(Markham Geller et al.) werten mehr als tausend Keilschrifttexte aus, um die Geheimnisse der assyrischen Medizin zu entschlüsseln, #DERSPIEGEL, 47/2017
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