In Deutschland ist das Vogelkonzert fast verstummt, bleibt der Sommer weiterhin ohne Grillenzirpen und Schmetterlings-Torkelflug. Während der Naturschutz einzelne Erfolge bei charismatischen Arten wie Wolf, Wildkatze oder Schwarzstorch feiert, gleicht die Agrarlandschaft, die etwa 50 Prozent von Deutschlands Landfläche ausmacht, einer Ökowüste. Längst hat sich der Deutsche an blütenleere Feldraine gewöhnt, an Landschaften ohne Moore, Auen, Hecken und unberührte Wälder. Praktisch alle Tier- und Pflanzengruppen in der Agrarlandschaft sind von einem eklatanten Schwund betroffen. Eine Kehrtwende in der Landwirtschaft ist notwendig, um der Krise zu begegnen. Denn über die Ursachen des Naturverlusts gibt es keinen Zweifel. Eine über Jahrzehnte fehlgeleitete EU-Agrarpolitik hat Deutschlands Bauern von ehrbaren Pflegern der Vielfalt zu Landwirtschaftsräubern gemacht.
Damit vergibt die Bundesregierung eine Chance: Deutschland könnte ein Vorbild für die Versöhnung von Landwirtschaft und Ökologie sein. Wie bei der Energiewende könnte das Land mutig voranschreiten in eine Agrarwende, die beiden gerecht wird, der Produktion von Lebensmitteln und dem Erhalt der Artenvielfalt. Mit den Insekten geht es steil bergab. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich das mittelfristig ändert. Und wer wollte daran zweifeln? Nur die Älteren erinnern sich noch an Autoscheiben, verklebt von Insekten, an Gärten voller Bienen, an Straßenlaternen, die nachts von zahllosen Motten umkreist werden. Die Folgen sind dramatisch. Insekten machen 70 Prozent aller Tierarten in Deutschland aus. Sie sind Nahrungsgrundlage vieler Vögel, Fledermäuse und Amphibien. Sie tragen dazu bei, die Böden fruchtbar zu halten. Sie helfen als Nützlinge in der Landwirtschaft.
Ohnehin sind Vögel die auffälligsten Opfer der Landschafts- und Artenkrise. In der EU ist die Zahl der Brutpaare in der Agrarlandschaft zwischen 1980 und 2010 um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Besonders hart trifft es Bodenbrüter wie Feldlerchen, Braunkehlchen, Kiebitze oder Rebhühner, die keine Brut- und Rastplätze mehr in der Landschaft finden oder deren Gelege bei Ernte oder Mahd zerstört werden.
Das Gut Temmen, ein Großbetrieb, ist ein Biosphärenreservat in der Möränen-Landschaft. In den Ländereien werden 3460 Hektar bewirtschaftet, davon stehen 2780 Hektar unter dem Pflug. 1500 Rinder weiden auf den Wiesen. 300 Schweine wachsen heran. Es gibt einen Hofladen mit Wurst und Fleisch, Pferdeställe und Gästezimmer. Subunternehmer veranstalten Planwagenfahrten und vermehren Wildsamen. Künstliche Mineraldünger und synthetische Pestizide sind in der Biowirtschaft verboten. Dadurch ändert sich alles: Auf Gut Temmen stammt der Dünger aus dem eigenen Mist aus einer „Mistkooperation“ mit einem nahen Hühnerbetrieb. Zudem werden Rotklee und Luzerne als „Vorfrüchte“ angebaut, beides sogenannte Leguminosen, die über Knöllchen-Bakterien in ihren Wurzeln Stickstoff aus der Luft binden und so den Boden düngen. „Eine gewisse Toleranz gegenüber Unkräutern“ ist angebracht. Tatsächlich ragen die Köpfe vieler Disteln aus der Wintergerste. Die Ausfallkosten sind überschaubar.
Was auf diese Weise entsteht, ist ein Kulturland, das komplexer, vielfältiger ist als das auf konventionellen Höfen. Ein Mosaik von Lebensräumen hat sich auf Gut Temmen erhalten und herausgebildet, das zahllosen Arten Unterschlupf bietet. Schon ökologischer Landbau an sich garantiert eine hohe Artenvielfalt. Auf Gut Temmen wird versucht, Pflanzen und Tieren noch mehr Raum zu geben. 20 Meter breite Blühstreifen rund um einige der Tümpel des Betriebs erlauben Moorfrosch, Rotbauchunke, Kammmolch und Knoblauchkröte das Wandern. Die Amphibien locken wiederum Weißstorch und Schreiadler an.
Einige Politiker fordern ein sofortiges Verbot von chemischen Pflanzenschutzmitteln wie Neonicotinoiden und Glyphosat sowie eine Pestizidabgabe, damit die Folgekosten nicht mehr auf die Gesellschaft abgewälzt werden. Auch bei der Überdüngung müssten die Verursacher, zum Beispiel über eine Stickstoffabgabe, „zur Rechenschaft“ gezogen werden. Insgesamt, so steht es im „European Nitrogen Assessment“ verursacht die Überdüngung in der EU Schäden für Gesundheit, Ökologie und Klima von 70 bis 320 Milliarden Euro jährlich. Auch bei der Energiewende wird ein Umsteuern empfohlen. Bioenergie dürfte nur noch aus Rest- und Abfallstoffen gewonnen werden, nicht mehr aus eigens dafür angebauten Mais oder Raps.
„In welchem Deutschland wirst Du einmal leben?“, fragte Bundeskanzlerin Angela Merkel einmal mit sanfter Mutti-Stimme in einem aktuellen CDU-Wahlspot zu einem Bild eines Ungeborenen. (Hohle Worte). Die Regierung unternimmt zu wenig, um die natürlichen Ressourcen für die Zukunft zu sichern. Ein starker Staat müsste viel entschiedener eingreifen, wenn die Bauern die biologische Vielfalt ruinieren.
Philip Bethge, Sommer der Stille (Auszug), unberührte Landschaften voller zirpender Grillen und singender Vögel – das war einmal. Deutschland leidet unter einem dramatischen Artenschwund, Nur eine radikale Wende zur Biolandschaft könnte die Vielfalt noch retten, #DERSPIEGEL, 26/2017, Seite 98 bis 102
Leserbrief, DER SPIEGEL, Nr 36/2017 Deutschland leidet unter einem dramatischen Artenschwund – schuld daran sind die Bauern. Ein Rückgang der Insekten-Biomasse von bis zu 80 Prozent in den letzten 20 bis 25 Jahren! Der schleichende Verlauf lässt dabei fast vergessen, dass der Artenschwund schon vor 1990 beträchtlich war. So wurden in der näheren Umgebung meines Wohnorts vor knapp hundert Jahren noch Vogelarten dokumentiert, deren Vorkommen hier nicht einmal mehr vorstellbar ist: Auerhuhn, Birkhuhn, Steinkauz, Wiedehopf und etliche andere. – Norbert S. Bamberg
9 Antworten zu Erst #Insektensterben dann #Vogelsterben