Städter reagieren viel empfindlicher auf Stress als Menschen, die auf dem Land wohnen. Manche Stressfolgeerkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und auch Schizophrenie treten bei Städtern deutlich häufiger auf als bei Menschen, die auf dem Land wohnen. Dazu kommt, wer als Kind auf dem Land aufgewachsen ist, trägt möglicherweise ein Leben lang Spuren davon in sich. Das Schizophrenierisiko im Erwachsenenalter ist umso größer, je länger man als Kind in der Stadt gewohnt hat. Laute Autos, stinkende Abgase, hohe Kriminalität, wenig Grün… All das sind wichtige Faktoren. Belastender Stress hat fast immer auch eine soziale Komponente. Der Lärm der Nachbarn nervt uns viel mehr, wenn wir sie nicht kennen oder sie nicht mögen, als wenn wir mit ihnen befreundet sind. Und der Lärm eines aufheulenden Motorrads, der von der Straße in unser Wohnzimmer dringt, treibt unseren Adrenalinspiegel auch deswegen in die Höhe, weil wir ihn als Verletzung unserer Territoriumsgrenze empfinden.
Der soziale Stress in der Stadt birgt die größte Gefahr. Dabei spielen vor allem zwei Faktoren eine Rolle: Isolation und die Angst vor dem sozialen Ausschluss oder Abstieg. Einsam ist man vor allem unter Menschen, von denen man ausgeschlossen wird – und nicht bei einem Waldspaziergang, den man bewusst alleine unternimmt. Hohe Bevölkerungsdichte in der Stadt in Kombination mit sozialer Isolierung kann großen sozialen Stress erzeugen. Wer einsam in seiner Mietwohnung sitzt, und durch die dünnen Wände ständig die nervigen Nachbarn hört, zu denen er keinen Kontakt hat, ist psychisch stark belastet. Das ist eine Stresssituation, die man schwer aushalten kann.
Dass Abstiegsangst Stress verursacht, ist gut belegt – egal ob in der Stadt oder auf dem Land. Aber in der Stadt ist das soziale Gefälle meist größer und verläuft steiler als auf dem Land. Auch große Unterschiede auf begrenztem Raum können Stress verursachen. Psychische Belastung hängt weniger von der eigenen Armut als von der Armut der Nachbarn ab. Wer neben Menschen wohnt, die arm sind, hat offenbar Angst selbst in finanzielle Not zu geraten. Und diese Angst vor der Armut verursacht wahrscheinlich mehr Stress als das Armsein selbst.
Berlin ist vielleicht eine Ausnahme. Berlin ist eigentlich eine mediterrane Stadt. Der Grund sind seine breiten Bürgersteige, die keine reinen Transitzonen sind, sondern zum Verweilen einladen, weil sich auf ihnen Cafes ausbreiten können oder einfach Leute Tische und Stühle rausstellen. Und wegen seiner immer noch vielen Brachflächen, die vielfältig genutzt werden.
Trotz des höheren Depressions- und Schizophrenierisikos bieten Städte viele Vorteile: bessere Krankenversorgung, mehr Bildungs- und Kulturangebote. Wichtig ist, dafür zu sorgen, dass auch wirklich jeder Stadtbewohner Zugang zu diesen Möglichkeiten hat. Opernhäuser und Theater haben einen Public-Health-Auftrag. Das muss der Politik klar sein, wenn über Kulturförderung und Subventionen gestritten wird.
- Mazda Adli, 47, berichtet in seinem Buch „Stress and the City“ über die mentalen Folgen des Stadtlebens. Sein Buch hat er vor allem auf dem Land geschrieben. Er hält es für sehr wichtig, diese Möglichkeit des Rückzugs zu haben.
Interview: Veronika Hackenbroch, „Einsam unter Menschen“(Auszug), Depressionen, Angststörungen, Schizophrenie – der Berliner Psychiater Mazda Adli beschreibt, wie in Städten durch sozialen Stress psychische Krankheiten entstehen, #DERSPIEGEL, 19/2017
Mazda Adli, Stress and the City. Warum uns Städte krank machen, C. Bertelsmann, 2017, 384 Seiten, € 19,99
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