Maite ist eine 20-jährige Spanierin. Sie kommt aus einem wohlhabenen, konservativen Elternhaus. Die Familie lebt im spanischen Valencia. Von hier aus werden Orangen in alle Welt verkauft. Weil sie das entsprechende Alter erreicht hat, geht Maite 1990 zum Studieren von Valencia nach München. Zu dieser Zeit wird in Deutschland die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten gefeiert. Auch Maite, dem Elternhaus gerade entronnen, fühlt sich frei und unabhängig. Sie ruft sich zur „Souveränen Republik“ aus. In München lernt Maite Carlos kennen und lieben. Er ist der Sohn einer Deutschen und eines Spaniers. Zur Familie gehört auch Antonio, der Großvater von Carlos, mit dem sich Maite gut versteht und anfreundet.
Der spanische Großvater Antonio musste 1933 nach Frankreich fliehen. Das war zur Zeit von General Francos Machtergreifung. Antonio gerät 1940 in ein Auffanglager für spanische Republikaner. Von hier aus geht es mit ihm in einem Deportationszug Richtung Mauthausen. Böses ahnend, gelingt ihm in München die Flucht aus dem Güterwagon. Erst viel später kann er sich eine Existenz als Orangenhändler auf dem Münchener Großmarkt errichten. Doch durch sein Leben als Flüchtling ist er für alle Zukunft gezeichnet. Wem soll er von den drei Tagen auf den Gleisen erzählen? Wie von Hunger, Durst, Kälte und Dreck berichten? Das Grauen hat ihn von innen ausgehöhlt. Jede Erinnerung an den Todeszug bereitet ihm Angst, Todesangst. Vergeblich versucht er die Schrecken zu verdrängen; es funktioniert nicht.
Die tiefste Tiefe von Elend, das Äußerste an Qual trifft
immer den Einzelnen, nicht eine Anzahl von
Menschen. Das unheimliche Schmerzensübermaß
des Todeskampfes muß der Mensch einzeln ertragen,
nie wird es der Masse der Menschen zuteil.
Edgar Allan Poe
1809 – 1849
Als Maite ihre Heimatstadt Valencia verlässt weiß sie noch wenig über die Geschichte ihres Landes und ihrer Familie. Man erzählt, ihr konservativer Vater Francisco sei früher ein einfacher Dorfpolizist gewesen. Maite ahnt noch nichts von den Verbrechen der Guardia Civil während der Diktatur von General Franco. Das aber wird schlagartig anders. Während einer Familienfeier bei den deutschen Verwandten ihres Freundes Carlos stößt sie auf das Schwarzweiß-Foto eines Wehrmachtssoldaten. Letztendlich erkennt sie dieses Foto wieder: Über der rechten Brusttasche der Uniformjacke ein Adler mit Hakenkreuz. Links auf der Tasche ein schwarzes Kreuz mit weißem Rand, – solches hat sie im Schreibtisch ihres Vaters gesehen.
Der 17-jährige Francisco, ihr Vater, zog für Deutschland in den Krieg. Hitler hatte zuvor Franco im Spanischen Bürgerkrieg mit der Legion Condor unterstützt. Diese zerstörte mit ihren Bombern die baskische Stadt Guernica zu 71 Prozent aus der Luft. Als Gegenleistung stellte Spanien 1941 eine Division zusammen, um Deutschland im Russlandfeldzug beizustehen. Die sogenannte „Blaue Division“, eine spanische Einheit aus Freiwilligen, war an der Belagerung Leningrads beteiligt. Francisco, ihr Vater, war dabei. Der eisige russische Winter machte aus ihm nach Absterben seiner Zehen einen Anderen, einen Versehrten. Wieder zuhause konnte ihm die Familie nichts mehr geben; er hatte sich von ihnen innerlich gelöst. Das was ihm blieb waren seine Überzeugungen von einst: „Die Bolschewisten sind an allem Schuld“. Nach dem Krieg und im Dienst von General Franco hat er sich bei der Verfolgung und Ermordung Andersdenkender beteiligt. – Eine Beziehung, gar eine glückliche, konnte der fehlgeleitete und verbohrte Vater zu seiner rebellierenden Tochter Maite niemals aufbauen.
Zwei vom Schicksal nicht gerade verwöhnte alte Männer schweigen in sich hinein. Jeder auf seine Art. Dem einen gestehen wir eine „Opferrolle“, dem anderen weisen wir eine „Täterrolle“ zu. Die Familiengeschichten der beiden reichen von 1939 bis 2004 über drei Generationen. Die Familienmitglieder sind durch den Orangenhandel miteinander verbunden. Daher auch der Titel des Buches. Einerseits Maite durch die valenzianische Orangen-Dynastie, andererseits Antonio als Orangenverkäufer auf dem Münchener Großmarkt. Am Anfang und am Ende dieses nicht nur wegen seines Inhalts bemerkenswerten Romans steht man vor einem Massengrab in der Umgebung von Valencia. In diesem frisch ausgehobenen Massengrab werden die Überreste von sieben Republikanern geborgen; unter den Opfern ist auch Antonios Vater. Sie wurden 1939 während der Franco-Ära von Polizisten der Guardia Civil erschossen.
Verena #Boos, Blutorangen, Roman, Aufbau Verlag, Berlin, 1. Auflage 2015, 411 Seiten, € 19,95